Wie in einem bösen Traum,
der leider noch real ist und nie zu Ende geht, so komme ich mir vor. Oft hat sich Ines so geäussert. Manchmal hat sie kaum noch Kraft, sich der Situation zu stellen. Andererseits soll dieser Traum auch nie zu Ende gehen. Um Nichts auf der Welt würden wir unser Püppchen wieder verlieren wollen. Seit der Entbindung hält Ines alleine in Leipzig die Stellung und kümmert sich täglich viele Stunden um Helene. Weit weg von ihrem schönen zu Hause, weit weg von ihrem Michi (Ehemann). Niemand da, dem man sich anvertrauen kann, keine Umarmung die einem wieder Kraft geben könnte, um weiter durchzuhalten. Die vielen Stunden am Inkubator sind ja schon stressig genug, aber es gibt noch viele Dinge, die einen zusätzlich belasten. Einige Beispiele sollen zeigen, welche Sachverhalte Frühchen-Eltern auch noch Probleme machen können und die Aussenstehenden gar nicht auffallen werden. Wir hören nur, dass es uns doch ganz gut geht. Die Kleine ist versorgt und macht ständig Fortschritte. Ines wohnt sogar im Hotel und kann machen, was sie will. Was ihr nur habt. Denn redet man mal über Schwierigkeiten und Rückschläge, will man das gar nicht hören. Schnell wird dann abgeblockt: "es wird schon nicht so schlimm sein" oder "das wird schon werden".
Papa muss arbeiten gehen und steckt mitten in einer Fortbildung an einer Abendschule. Er muss viel Organisieren (Geburtsurkunden, Anträge für Mutterschutzgeld, Kindergeld, Erziehungsgeld usw.), der Haushalt muss weiter geführt werden und noch etliches für das Kind besorgt werden. Und natürlich will er so oft wie es geht seine beiden Frauen in der Klinik besuchen. Und Mama macht sich Vorwürfe, daß Papa alles alleine regeln muss und dass sie für längere Zeit auf Familienleben nach ihren Vorstellungen verzichten muß.
Nach ihrer glücklicherweise schnellen Genesung nach ihrer Sektio soll Ines aus der Klinik entlassen werden, weil keine Behandlungen mehr nötig sind. Für Ines bricht wieder eine Welt zusammen. Sie soll nach Hause (80 km = ca. 1,5 Std. Autofahrt weg), aber sie pumpt doch ständig für Helene Muttimilch ab und will auch sonst ständig für sie da sein. Die Klinik konnte keine Unterbringung anbieten. Täglich fahren im Winter wäre auch zu anstrengend. Was nun? => Michi verhandelt mehrere Tage mit der Krankenkasse und bekommt schließlich in einer Einzelfallentscheidung eine Kostenzusage für ein Hotelzimmer in Kliniknähe.
Vielleicht wegen der kurzen Schwangerschaft, vielleicht auch wegen der Kaiserschnittgeburt unter (freiwilliger) Vollnarkose - Ines kann sich noch nicht so recht damit identifizieren, dass das kleine Mädchen ihre Tochter sein soll und sie nun eine Mutter ist. Muttergefühle fehlen irgendwie, aber was fühlt eigentlich eine Mutter nach einer normalen Geburt? Sie kommt sich mehr so vor, als hätte sie Helene zur Pflege adoptiert. Beim ersten Besuch an Helenes zweiten Lebenstag auf der Kinderintensivstation wurde sie (noch ganz benebelt von der OP) zum Inkubator gerollt. Ines beschreibt ihr Gefühl dabei so: Da liegt noch ein kleines Mädchen drin. Die teilen wir Ihnen zu, Sie dürfen sich um sie kümmern.
Eine Frühgeburt ist für alle Verwandten und Bekannten eine Überraschung. Meist hatten die noch nie mit diesem Thema zu tun und interessieren sich (mehr oder weniger) dafür. Die meisten hoffen und bangen mit einem und freuen sich über jeden kleinen Fortschritt. Es gibt aber auch bei einigen (nicht in unserer Verwandtschaft) deutliches Unverständnis, warum mit dieser "Mißgeburt" überhaupt so ein Aufwand getrieben wird, da wird ja doch nichts Vernünftiges draus. Die Schwestern der Klinik berichteten uns, dass solche Meinungen sogar von Grosseltern von Frühgeborenen im Beisein der jungen Eltern geäussert wurden! Aus diesem Grund wird in unserer Klinik der Besuch von Grosseltern oder anderen Verwandten zumindest in den ersten Wochen nicht zugelassen. Dies funktioniert auch schon allein aus Platzgründen nicht.
Ines fühlt sich für Helene total verantwortlich. Wird sich über Helene mal von Schwestern "beschwert", weil sie so laut theatert, dann faßt sie das persönlich. Muß Helene mal unangenehme Untersuchungen ertragen, "hört sie ihre Stimme": Mutti, warum lässt du das zu? Warum hilfst Du mir nicht? In solchen Situationen hätte sie Helene am liebsten geschnappt und wäre fortgerannt, um sie zu beschützen. Unsere größte Sehnsucht ist es, endlich zu dritt zu Hause zu sein, Ruhe zu haben und einfach nur zu kuscheln. Aber das geht leider noch nicht.
Dreimal war Ines bisher für je einen Tag nach Hause gefahren, um Organisatorisches zu regeln. Jedes mal hat es ihr fast das Herz zerissen. Wenn sie an Helene denken mußte, kullerten häufig die Tränen. Sie hatte jedesmal ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre hilflose Tochter "im Stich lassen würde". Das schlug sich auch immer sofort auf eine geringer werdende Muttimilchmenge beim Abpumpen nieder. Es machte sie dann ganz verrückt, denn das Pumpen der Muttimilch ist für sie sehr wichtig, weil es die einzige Möglichkeit wäre, mit der nur sie Helene was Gutes tun kann. Weil gerade Frühchen für eine normale, gesunde Entwicklung auf Muttimilch angewiesen sind, hat Ines auch Angst, dass die Milchproduktion zu Ende gehen könnte. Mit der Milch wird bei Helene sogar experimentiert. Ines soll beim Abpumpen in Vor- und Hintermilch (dünne und dicke Milch) trennen. Das Dicke bekommt Helene, damit sie schneller zunimmt, das Dünne wird für andere Babys gespendet. Weil es nichts gebracht, wurde dies später wieder abgeschafft.
Seit wir zu Hause sind haben sich die bisherigen Probleme relativiert. Jetzt kämpfen wir mit Helenes Trinkleistung. Sie nimmt zwar zu ( sehr langsam ) und sie sieht nicht gerade verhungert aus, eher wie ein normales Neugeborenes.Sie hat sogar kleine Speckfalten. Trotzdem ist es für Ines beunruhigend, dass Helene nicht "ihr Sechstel ihres Körpergewichtes" an Menge vertilgt (zur Zeit sind wir bei einem Zehntel).
Mami macht sich Gedanken weil Helene nicht auf dem Bauch liegen will - selbst nur mal kurz zum Hemdchen zubinden. Dann geht sofort Geschrei und Geweine los. Vielleicht tut ja was weh, aber das scheint nur Ines zu stören.
Helene trinkt seit sie Brei bekommt weniger, obwohl es sehr warm ist. Ausserdem will sie keinen Saft oder Tee.
Auch wenn man als Eltern viel vergisst, weil ja jetzt alles scheinbar gut läuft, holt ein das Erlebte immer wieder ein. Ines hat die Untersuchungen des Augenarztes während des Klinikaufenthaltes schon damals als sehr schlimm empfunden. Nun stand die erste Augenuntersuchung beim Heimatarzt an ( 5 Monate nach Entlassung ). Ines ging es eine Woche vorher schlecht. Niedriger Blutdruck, Erbrechen, einfach Hundeelend und nach dem Termin war alles wie weggeblasen. Sie hatte eine Angst, daß Helene den selben Strapazen ausgesetzt würde wie damals. Dann war aber alles halb so schlimm. Wer weiss, was die Mutter noch alles traumatischer verarbeitet hat wie ihr Kind? Empfehlung: Vermeidung der Anwesenheit bei solchen Untersuchungen.
September 99: Helene kann stehen und wird auch bald laufen. Wo bekommen wir bloß Schuhe für so winzige Füßchen her?
Frühförderung: Aus verschiedenen Richtungen wurden wir auf die Möglichkeit und Helenes Anspruch auf Frühförderung hingewiesen. Wir kümmerten uns gleich. Bei uns in Thüringen gibt es Frühförderstellen, die für die Durchführung zuständig sind. Bezahlt wird das aber vom Sozialamt. Wenn eine Leistung von einem Amt getragen wird, benötigt man für die Genehmigung ein unabhängiges Gutachten. In unserem Fall eines Amtsarztes (speziell hier: kein Kinderarzt, kein behandelnder Arzt und wohl nicht mit der Materie vertrauter Mediziner - als Hygieniker sicherlich kompetent, aber für die Einschätzung der Notwendigkeit einer Frühfördermassnahme eben doch nicht sinnvoll). Helene sass zu besagten Termin etwa 5 Minuten Voll in Wintersachen angezogen auf Mamas Schoss. Das war die "Begutachtung"! Es wurde entschieden: "Ablehnungsbescheid ... Helene nicht von Behinderung bedroht ... körperlicher Entwicklungsrückstand vorhanden ... motorisch ... verzögert ... seelisch ... keine Auffälligkeiten ... detaillierte Testung des geistigen Entwicklungsstandes ... auf Grund des Alters ... noch nicht (möglich)." Wir haben Gegengutachten zusammengesammelt und Einspruch eingelegt. Da dieses Einspruchsverfahren unter Umständen Monate dauert, welche uns nun schon seit Anfang Dezember verloren gingen, haben wir nun beim zuständigen Verwaltungsgericht eine "einstweilige Anordnung" beantragt. Dort wird nun erst mal entschieden. Um bei eventuellen weiteren Ablehnungsbescheiden gewabnet zu sein, bitten wir um Infos: Wie ist der Verfahrensweg bei Frühförderung in anderen Bundesländern? Gibt es Gesetze oder Präzedenzfälle, auf welche wir uns berufen können? Wie sind Eure Erfahrungen mit Frühfördermassnahmen?
Andere derzeitige Probleme (haben wohl weniger mit der Frühgeburt zu tun): Papa arbeitet seit November 1999 im Saarland, ist kaum da. Helene ist trotzdem sehr auf ihn fixiert. Mama arbeitet seit Februar 2000 wieder als Lehrerin. Helene erlaubt Vorbereitungen erst nach 19.00 Uhr, wenn sie im Bett ist. Sie hat aber spätestens, wenn Mami vorbereitet hat, ca. 24:00 Uhr ihr Schlafpensum erledigt und hält Mami dann bis 5:30 Uhr (Aufstehzeit) auf Trab!
Wie könnten wir Helene die Wachstumsschmerzen nehmen oder zumindest verringern, ohne immer gleich Schmerzzäpfchen zu verabreichen?Das erstaunliche sind die wohl unheimlichen Schmerzen obwohl Helene scheinbar nicht grösser wird. (immer noch aktuell)
Wachstumstherapie mit Hormonen: Die Überlegungen zu diesem Thema beschäftigen uns schon seit langem. Das Abwägen von Vor- und Nachteilen fällt uns nicht leicht, weil uns jegliches medizinisches Wissen fehlt. Einerseits wollen wir Helene nicht unnötig zusätzlich belasten, andererseits wollen wir uns nicht sagen lassen: “Hättet ihr damals doch...”. Man hat uns jetzt aus ärztlicher Sicht klargemacht, dass in der Nutzen-Aufwand-Waage der Nutzen überwiegt.
Helene ist im Januar 2005 einfach weggeklappt. Unterzuckerung oder Kreislauf oder einfach Veranlagung zu solchen Anfällen - auf jeden Fall Aufregung für alle Beteiligten. Wir hoffen inständig, dass dieses Erlebnis einmalig bleibt.
Helene hat mächtige Probleme im mathematischen Bereich. Wir haben jetzt die Grundschule gewechselt - wissen allerdings nicht, wie es nach der Grundschule mit einer Dyskalkulie weitergeht. Eine integrative Regelschule gibt es so nicht in unserer Nähe.
Diese Liste lässt sich eigentlich noch viel weiter fortsetzen. Das soll jedoch erst mal reichen. Es handelt sich wirklich um Sachverhalte, die diese Gesamtsituation noch komplizierter machen. Vielleicht erkennen manche, dass sie dasselbe durchmachen mussten oder haben noch ganz andere Probleme.
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